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Verdrängt und vergessen
Ein Team des Arbeitskreises Dorfgeschichte Voßwinkel arbeitet das vom NS-Staat auch vor Ort angewandte Euthanasie-Programm zur Vernichtung „unwerten Lebens“ auf
Den Opfern ein Gesicht geben. Den Opfern, darunter auch Kinder, die im nationalsozialistischen Unrechtsstaat als sogenanntes unwertes Leben unter das Euthanasieprogramm fielen – und ermordet wurden. Das will der „Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel“. Unter Führung von Michael Filthaut holt eine kleine Gruppe die Schicksale ehemaliger Voßwinkler Mitbürger aus der Dunkelheit hervor. Als Mahnung. Als Erinnerung an unsägliches Leid. Und hat damit jede Menge Arbeit.
„Die Idee, dieses traurige Kapitel deutscher Geschichte auf unseren Ort hin zu untersuchen,“ sagt Heimatforscher Michael Filthaut und 2. Vorsitzender des Arbeitskreises, „entstand vor etwa sechs Jahren.“ Damals hatte der Arbeitskreis im „Voßwinkler Rückblick“ den Zeitabschnitt 1933 bis 1939 aufgearbeitet, später dann die Zeit bis 1945.
Doch immer wieder sei im Ort auch über ehemalige Mitbürger gesprochen worden, die der Euthanasie zum Opfer gefallen sein sollen. Aber nur hinter vorgehaltener Hand, sei doch das Thema in den betroffenen Familien immer noch ein Tabu. „Daher war bei uns schnell die Frage aufgetaucht: Was ist tatsächlich hier passiert?“ Als Michael Filthaut dann 2019 von einem früheren Mitbürger eine Akte über dessen Großvater zur Aufarbeitung angeboten wurde, der durch das Euthanasie-Programm der Nazis sein Leben verloren hatte, nahm das Projekt Fahrt auf.
Überrascht über Aktenfülle
Unter Federführung Filthauts recherchierten gemeinsam mit ihm Michael Rademacher und Alex Paust in den Archiven. Und wurden überrascht: „Wir haben allein im NRW-Archiv, in dem sich viele Akten des sogenannten Erbgesundheitsgerichts des NS-Staates befinden, einen Vorgang angefordert – und 70 verschiedene Fälle mit Bezug auf Voßwinkel waren dort vorhanden.“
Von den 70 Akten, in denen die Schicksale – besser die Ermordung aus unsäglichen „medizinischen“ Gründen, die auf den Pseudowissenschaften Erbgesundheit und Rassenhygiene basierten – ehemaliger Dorfbewohner festgehalten sind, hat das Recherche-Team um Michael Filhaut bislang rund 25 durchgesehen. Und immer wieder überraschte und überrascht dabei, „wie konkret die Aufzeichnungen sind“.
Aber auch die Lügen: So ziehe sich beispielsweise die im NS-Euthanasie-Programm inflationäre „Diagnose“ Schwachsinn wie ein roter Faden durch die Akten. Und – als Paradebeispiel der Verlogenheit und für das perverse „Gesundheits“-System des NS-Staates - von einer der mit Euthanasie befassten Kliniken wurde sogar den in Voßwinkel bangenden Angehörigen eine Todeserklärung einige Tag zu früh zugesandt. „Denn das spätere Euthanasie-Opfer hat da noch gelebt. Das alles können wir belegen.“
Franz (18) aus Voßwinkel, auf dem Foto rechts, mit Geschwistern und Mutter (rechts). Das Foto müsste von 1918 sein, da der Bruder noch die Uniform des 1. Weltkriegs trägt. Da war Franz noch gesund. Er war aktiv im Jungmännerverein und Fußballer bei der DJK. Dann wurde er zum Opfer der in die Euthanasie verstrickten Ärzte. Foto: privat
Doch mit der Durchforstung dieser bislang insgesamt 70 Akten aus der Hinterlassenschaft des Erbgesundheitsgerichts allein ist die Arbeit nicht getan. „Schließlich müssen wir auch noch in anderen Archiven recherchieren.“ Was aber durch die Corona-Pandemie bislang sehr schwierig war, ist und wohl weiter sein wird.
Erste Ergebnisse des Dorfarbeitskreis-Projektes hat der engagierte Heimatforscher Michael Filthaut gemeinsam mit Michael Rademacher und Alex Paust bereits zu einem eindringlichen Vortrag zusammengefasst und – symbolträchtig – anlässlich des Volkstrauertages im Pfarrheim unter dem Titel „Krieg gegen das eigene Volk – Opfer von Euthanasie, Zwangssterilisation und Justiz in einem Dorf im Sauerland“ vorgetragen.
„Die Zuhörerinnen und Zuhörer,“ sagt Filthaut, „waren sehr berührt. Es war teils mucksmäuschenstill.“ Aufgrund der Resonanz wird der Heimatforscher diesen Vortrag noch einmal wiederholen. Ebenfalls an einem symbolträchtigen Datum: dem 30. Januar 2022. Der 30. Januar wurde von den Nationalsozialisten als „Tag der Machtergreifung“ betrachtet.
Grundsätzlich aber sollen die akribischen Recherchen über die unfassbaren Morde und Zwangssterilisationen an ehemaligen Voßwinklern nach intensiver Aufarbeitung veröffentlicht werden. Allerdings mit Rücksicht auf deren Familien ohne Nachnamen. Es sei aber noch ein langer Weg bis zum Druck, lägen doch noch viele ungeöffnete Akten auf dem Tisch. „Unsere Arbeit bleibt aber ganz klar auf Voßwinkel begrenzt.“
Angebot für heimische Schulen
Weil der Arbeitskreis Dorfgeschichte mit diesem Thema, das selbst unter den vielen anderen monströsen Verbrechen im nationalsozialistischen Staat traurig herausragt, tiefe Einblicke in das kranke, unmenschliche Denken der damals Verantwortlichen freigibt und zugleich zeigt, dass die perfekte Tötungsmaschinerie des NS-Staates nicht nur auf die großen Städte beschränkt war, hat Michael Filthaut den Arnsberger Schulen angeboten, den Vortrag in den Geschichtsunterricht einzubinden.
„So können die Schülerinnen und Schüler diesen Abschnitt deutscher Geschichte nicht nur in der Theorie nachvollziehen, sondern anhand der Schicksale von Menschen direkt vor Ort.“
Auch das „Erbgesundheitsgericht“ Arnsberg spielt eine sehr düstere Rolle
Das Euthanasie-Programm war das erste Massenmordprogramm der Nationalsozialisten. Es ging dem Völkermord an den europäischen Juden etwa zwei Jahre voraus.
Das Programm war eine von vielen radikalen eugenischen Maßnahmen, die darauf abzielten, die „rassische Integrität“ des Landes wiederherzustellen.
Ziel war es, zu beseitigen, was Eugeniker und ihre Anhänger als „lebensunwertes Leben“ ansahen: Menschen, die aus ihrer Sicht aufgrund psychischer Erkrankungen sowie geistiger und körperlicher Behinderungen sowohl eine genetische als auch eine finanzielle Belastung für die deutsche Gesellschaft und den Staat darstellten.
Im Herbst 1939 unterzeichnete Adolf Hitler eine Geheimvollmacht , um die teilnehmenden Ärzte, das medizinische Personal und die Verwaltung vor strafrechtlicher Verfolgung zu schützen.
Diese Genehmigung wurde rückwirkend zum 1. September 1939 erteilt, um die Maßnahmen in einen kriegsbezogenen Zusammenhang zu stellen.
Sogenannte „Erbgesundheitsgerichte“ urteilten auch über Sterilisierungen auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Allein das Erbgesundheitsgericht Arnsberg verurteilte mehr als 2100 Menschen, die darauf hin unfruchtbar gemacht wurden. Für Voßwinkel kann der Arbeitskreis Dorfgeschichte bis jetzt sechs Fälle nachweisen.